Aus Heinrich wird Henri

Er ist immer bei ihr. Drei Mal gefaltet, in einem Seitenfach der Handtasche. Vorsichtig holt Clementine Brandhorst ihn hervor. Die 88-Jährige liest die deutsche Übersetzung des Briefes, adressiert an ihren Mann Heinrich Brandhorst: „Meine Frau und ich würden uns sehr freuen, die Bekanntschaft ihrer Familie zu machen und an die Erinnerungen, die 16 Jahre zurückliegen, anzuknüpfen.“

Auf dem vergilbten Briefpapier steht in geschwungener Schrift oben rechts das Datum: 3. juillet 1963, er ist in der Nähe von St. Jean de Niost geschrieben worden. In dem kleinen, damals knapp 300 Einwohner zählenden Dorf bei Lyon in Südfrankreich hat der Landwirt Nemes auf seinem Bauernhof nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Kriegsgefangene beschäftigt. Heinrich Brandhorst war einer von ihnen.

So wie er waren 750 000 Deutsche ab 1945 in französischen Gefangenenlagern und arbeiten später auf Bauerhöfen, in Fabriken, Baustellen oder in der Minenräumung. Das sind sechsmal mehr deutsche Kriegsgefangene als nach dem Ersten Weltkrieg. Die Arbeitskräfte wurden als Reparationszahlungen für die Verwüstungen der Nazis angesehen.

Bauer Nemes hat im Arbeitslager in Dagneux nach deutschen Hilfen für seinen Hof gesucht. Obwohl die Familie von Heinrich Brandhorst zu Hause nur eine Kuh ihr eigenen nennen konnte, hat er sich als Gehilfe gemeldet. Die Zeit auf dem Bauernhof in St. Jean de Niost sollte ihn aufgepäppeln, erzählte Heinrich Brandhorst später. Im Gefangenenlager hatte er aus nagendem Hunger auch Kartoffelschalen gegessen.

Als Gefangener, der außerhalb des Lagers arbeiten durfte, ist er auf ein Fahrrad gestiegen und fuhr Bauer Nemes hinterher, Richtung St. Jean de Niost. In einem Bistro auf dem Weg haben Sie zu Mittag gegessen – kein französisches Essen ohne obligatorischen Rotwein. Noch bevor sie das Dorf erreichten, fiel Heinrich Brandhorst vom Fahrrad – Alkohol hatte er schon lange nicht mehr getrunken. Von da an war er nicht mehr nur ein einfacher Kriegsgefangener unter Tausenden anderen Deutschen. Er sollte das französische Leben auf dem Land und die Leute in den nächsten zwei Jahren kennenlernen.

Je nach Jahreszeit hat er gepflügt, Vieh gehütet oder Heu gemacht. Zusammen mit den anderen französischen Bauern. Zwei Jahre lang. Durch die Arbeit auf dem Bauernhof konnte er der strengeren Kontrolle der französischen Armee entgehen „Natürlich haben wir zusammen auf dem Feld den ein oder anderen gehoben, wir mussten ja die gleiche Arbeit machen, das schweißt zusammen“, erzählte ein ehemaliger Feldarbeiter, der zusammen mit Heinrich und den anderen deutschen Gefangenen auf dem Hof gearbeitet hatte. Nach und nach lernten die Gefangenen den regionalen Patoisdialekt und Französisch. Er hieß nicht mehr Heinrich, jeder nannte ihn „Henri“.

Der Brief aus Frankreich ist Wiederanknüpungspunkt an eine Freundschaft, die am diesem Folgetag des Zweiten Weltkrieges begonnen hat. Weit vor dem Élysée-Vertrag, dem offiziellem Ende der Erbfeindschaft und Ausgangspunkt einer institutionellen Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich. Der Historiker Fabien Théofilakis sagt, dass bereits lange vor dem politischen Willen einer Aussöhnung, es bereits persönliche Freundschaften gegeben hat. Doch erst im politischen Rahmen konnten diese ihre völlige Entfaltung finden. Der Franzose hat für seine Doktorarbeit über 80 ehemalige deutsche Kriegsgefangene in Frankreich interviewt und viele verschiedene Texte zu diesem Thema veröffentlicht.

Was genau Henri dazu gebracht hat, wieder nach Frankreich zu fahren und an die 16 Jahre alten Erinnerungen anzuknüpfen, wissen wir nicht. Fragen kann man ihn nicht mehr. Für Viele sei die Gefangenschaft ein relativ kurzer, aber wichtiger Teil ihres Lebens. Die ehemaligen Kriegsgefangenen beschäftigen sich besonders wenn sie älter werden und auf die Rente zugehen näher mit ihrer Vergangenheit, so Théofilakis. Sie fragen sich, was ihre Identität ausmacht und wollen ihren Familien oft die Orte zeigen, wo sie gefangen waren und gearbeitet haben.

Einen Sommer nach den ersten Briefen, im Jahr 1964, fuhr Henri zusammen mit seinem Schwager nach St. Jean de Niost. Es folgte 1972 der erste Besuch mit der ganzen Familie. Zelturlaube, bei denen die Zähne noch im nahen, sauberen Fluss Ain geputzt wurden. „Jeden Abend waren wir woanders zum Essen eingeladen – die Nachricht verbreitete sich meistens wie ein Lauffeuer – Henri ist wieder da!“, erinnert sich Clementine Brandhorst. Sie blättert durch ein dickes Album mit Frankreichfotos. Fast jeden Sommer haben sie von da an das Zelt ins Auto gepackt und sind Richtung Frankreich gefahren. „Wir haben viel von Frankreich gesehen, aber am schönsten ist immer der Besuch in St. Jean de Niost gewesen. Frankreich ist für mich genau dieser Ort. Und noch wichtiger sind die Leute, die nach und nach unsere Freunde geworden sind“, sagt Clementine Brandhorst heute.

Auch nach dem Tod von Henri fährt sie mit ihren Kindern und Enkelkindern regelmäßig nach St. Jean de Niost. Drei Generationen haben ihre Sommer im Zelt und im Wohnmobil am Ufer des Ains verbracht und waren am Abend eingeladen – bei den gleichen Leuten, bei denen Henri und Clementine seit Jahren vorbeischauen.

Heute erinnert nicht mehr viel an den über der Scheune im oberen Dorf von St. Jean de Niost gelegenen Verschlag, in dem Henri und seine sechs deutschen Kollegen jeden Abend zum Schlafen eingekehrt sind. Doch die Erinnerung an Henri im Ort ist allgegenwärtig. Im kleinen Dorfpark, in der Nähe des Ain, steht eine Bank mit einer kleinen Plakette „Von Heinrich und Clementine Brandhorst“. Bei jedem Besuch wird hier das obligatorische deutsch-französische Erinnerungsfoto geschossen.

Aus Feinden sind mit der Zeit Freunde geworden. Der Élysée-Vertrag im Jahr 1963 gab der deutsch-französischen Freundschaft eine politische Ebene. Dass sich Franzosen und Deutsche irgendwann einmal wieder feindlich gegenüberstehen, das hält Clementine Brandhorst mit ihren Erlebnissen, die so vielen Familiengeschichten ähneln, für unmöglich. „Stell Dir vor, es gibt Krieg und niemand geht hin“, sagt sie und schmunzelt zufrieden.